Beschreibung
Wie gehen Menschen mit Zeit um? Das war die Frage, die sich der deutsche Autor Michael Ende schon in den 1960ern stellte. Also schuf er nach und nach ein kleines, mysteriöses Mädchen, das gut zuhören kann und seine Freunde retten will, als diese plötzlich in den Strudel der Zeit und die Knechtschaft einer Zeitoptimierung geraten. 1973 veröffentlichte Ende den Roman „Momo“, ein Jahr später wurde er mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Eine Ironie des Schicksals, immerhin hatte Ende das Buch während seiner Jahre im italienischen Genzano di Roma verfasst. Dorthin war er gezogen, nachdem man ihm in Deutschland vorgeworfen hatte, zu viele „eskapistische“ Bücher zu schreiben und die Kinder nicht auf das echte Leben vorzubereiten. Diese italienische Note findet sich auch im Buch wieder: Momo wohnt in den Ruinen eines Kolosseums. Die sind in der jüngsten Verfilmung jedoch nicht in Italien zu finden, sondern in Pula; der Film wurde im istrischen Teil von Slowenien und Kroatien gedreht. Die erste Verfilmung entstand 1986 als deutsch-italienische Koproduktion, mit Radost Bokel, Mario Adorf, Armin Mueller-Stahl, John Huston und Ende in einer Minirolle. 2001 enstand ein Animationsfilm in Italien, der eine ganze Serie nach sich zog.
Wovor Ende schon in den 70ern warnte, hat sich im 21. Jahrhundert natürlich noch verschlimmert. Jetzt geht es nicht mehr nur darum, möglichst effizient und zeitsparend zu sein. Soziale Medien, technische Gadgets und das Erstarken der persönlichen Starpower auf dem Rücken ausbeuterischer Konzerne stehen an der Tagesordnung. Und so spielt „Momo“ von Christian Ditter, der Regie geführt und das Drehbuch geschrieben hat, an einer Schnittstelle von warmem Lokalkolorit und technisch-kaltem Futurismus. Das bunte istrische Straßenbild wird mehr und mehr von düsteren Wolkenkratzern und Neon-Lichtermeeren durchschnitten, bis man sich in einer der östlichen Tigerstaaten-Metropolen wähnt. Mit riesigen Werbetafeln und Schnellrestau rants gibt’s sogar Anleihen an „Blade Runner“.
Die Zeitstehlerei der grauen Herren (und Damen) ist nicht mehr nur ausbeuterische Bereicherung, weil die Menschen sich auf die falschen Dinge konzentrieren. Sie ist ein komplett kapitalistisch aufgezogenes Business-Modell. So wird Momos Freund Gino (Araloyin Oshunremi) etwa in den Strudel der Zeitstehlerei gezogen, da die grauen Herren ihm eine eigene Show mit Ratschlägen und Witzen für seine Fans anbieten; Instagram und TikTok lassen eindeutig grüßen. Seine Mutter Liliana (Jennifer Amaka Pettersson) hingegen ist von beruflicher Erschöpfung und finanziell prekärer Selbstständigkeit gebeutelt. Der Wunsch nach Zeit für Freizeit und Urlaub ist wie die Karotte vor der Nase, der sie, wie die moderne Arbeitskraft, gutgläubig hinterrennt, im Glauben, dass Selbstausbeutung sich irgendwann auszahlt.
Rezension: Unsere Kritik zum Film
Regisseur Ditter konnte übrigens ebenfalls einen beeindruckenden Cast zusammenstellen. Kim Bodnia und Claes Bang spielen respektive Momos Freund, den Straßenkehrer Beppo, und den Anführer der grauen Herren. Martin Freeman gibt den Wächter der Zeit, Meister Hora. Die Titelrolle übernimmt die junge Britin Alex Goodall, die bisher in Serien wie „The Devil’s Hour“, „A Gentleman in Moscow“ oder „Lockwood & Co“. zu sehen war. Einen tollen Österreich-Bezug gibt es auch: Tanja Hausner, die Schwester der Regisseurin Jesscia Hausner, scheint im internationalen Filmbusiness angekommen zu sein, von ihr stammen die Kostüme. Wo sich der Film jedoch nicht immer sicher ist: Welchem Erzählton er sich verschreiben will. Die magische Komponente ist durch das Technik-verliebte Setting der Welt etwas verloren gegangen. Bisweilen wirkt der Film düster, aufbereitet wie ein hektischer Spionagethriller, dann plötzlich wieder fröhlich verspielt. Goodall ist eine sympathische Momo, die in ihrem Kampf gegen die grauen Herren mit Leib und Seele für ihre Freunde einsteht. Die animierte Schildkröte Kassiopeia, die ihr hilft, ist herzig. Doch so richtig warm kann man mit der Welt, die hier geschaffen wurde, nicht werden. Die stärksten Momente sind ironischerweise jene, in denen der Film selber etwas entschleunigt und Momo auf Meister Hora trifft, der ihr seine Hilfe anbietet. Ein bisschen mehr Magie wäre schön gewesen. Fazit: Trotz kleiner Schwächen gut!