"Saint Omer": Eine moderne Medea vor Gericht
"Saint Omer": Eine moderne Medea vor Gericht
Alice Diop (2.v.l.) mit Darstellerinnen ihres Films "Saint Omer"
Wenn eine Mutter ihr Kind tötet, fehlen einem die Worte. Reflexartig wird nach einer Erklärung gesucht: War es Überforderung? Ist sie krank? Doch was, wenn es keine einfache Antwort gibt? Für ihren ersten Spielfilm "Saint Omer" hat die französische Regisseurin Alice Diop den Gerichtsprozess eines realen Falls von Kindsmord mit dokumentarischer Strenge rekonstruiert und zu einer Reflexion über Mutterschaft und das eigene Selbstbild erweitert. Ab Freitag (17. März) im Kino.
Diop drehte bisher Dokumentarfilme, was "Saint Omer" auch anzumerken ist. Der im Film thematisierte Mord an einem 15 Monate alten Kind ereignete sich tatsächlich 2016 in Frankreich. Die Mutter hatte ihr Kleinkind dem Atlantik ausgeliefert. Es ertrank. Die Regisseurin verfolgte den anschließenden Prozess und entschloss sich, ihn zu verfilmen, wofür sie auf Transkripte der Aussagen zurückgreifen sollte.
Im Zentrum des Films stehen zwei Frauen: die Angeklagte Laurence Coly (Guslagie Malanda), eine aus Senegal stammende Philosophiestudentin, und Rama (Kayije Kagame), eine senegalesisch-französische Dozentin und Autorin, die an einem Werk über Medea aus der griechischen Mythologie arbeitet und den Gerichtsprozess verfolgt. Schon bald nach Verhandlungsbeginn lässt Coly aufhorchen: Sie weiß nicht, warum sie ihre Tochter getötet hat. Sie hofft aber, dass ihr der Prozess Klarheit verschafft.
Licht ins Dunkel soll etwa die Lebensgeschichte Colys bringen, die umfassend erörtert wird. Von einem enttäuschten Vater und einer distanzierten Mutter ist da die Rede. Und von einer ungewollten Schwangerschaft mit einem weit älteren Franzosen, der die Beziehung zu ihr und später auch das Kind geheim hält. Auch führt sie einen Fluch ins Treffen, der auf ihr lasten soll. Gleichzeitig betont sie, mit Zauberei nichts am Hut zu haben.
Der Vater des ermordeten Kindes spricht in seiner Aussage davon, dass Coly krankhaft eifersüchtig, ja beinahe paranoid sei. Die Schwangerschaft habe er lange Zeit nicht bemerkt und zum Begräbnis des Kindes schaffte er es nicht, weil es "zu weit weg" stattgefunden hat. Rama verfolgt all das interessiert. Warum sie ein kurzer, einmaliger Blickwechsel mit Coly aus der Fassung und an den Rand eines Zusammenbruchs bringt, lässt sich erst nach geraumer Zeit mutmaßen.
Das zweistündige unkonventionelle Gerichtsdrama, das unter anderem bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, entwickelt trotz einer denkbar ruhigen Erzählweise einen ungewöhnlich starken Sog. Großen Anteil daran hat die undurchdringbare, eloquente Angeklagte, von der man nicht weiß, ob man mit ihr Mitleid oder gar Sympathie empfinden oder sie doch als manipulative Kindsmörderin abstempeln soll.
Auch versteht es Diop, den Gerichtsprozess als Vehikel für eine Reflexion über Mutterschaft, Migration und Selbstbild zu verwenden. Dem etwas strengen Werk mit langen Einstellungen voller Nahaufnahmen von Gesichtern verleiht das ordentlich Würze.
(S E R V I C E - )